|
Die Bindung Isaaks
Überlegungen zum Verständnis eines der gewaltigsten Abschnitte im Alten Bunde
Adrian Schenker
„Es trug sich nach diesen Ereignissen zu, dass Gott selbst es war, der Abraham auf den
Grund kommen wollte. So sprach er ihn an: Abraham! Der versetzte: Da bin ich. Er sagte: Nimm deinen Sohn, deinen Einzigen, den du liebhast, Isaak, geht mit ihm ins Land Morija,
und dort bring ihn als Brandopfer dar auf einem der Berge, den ich dir bezeichnen werde.
Frühmorgens am andern Tag sattelte Abraham seinen Esel und nahm zwei seiner Burschen
mit und Isaak, seinen Sohn. Er spaltete auch das Holz fürs Brandopfer und machte sich auf den Weg zur Stätte, die ihm Gott bezeichnet hatte. Am dritten Tag, als Abraham die Augen
erhob, gewahrte er die Stätte von ferne. Da befahl er seinen Burschen: Bleibt hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen, um unsere Anbetung zu verrichten.
Danach werden wir wieder zu euch zurückkommen. Abraham ergriff die Scheiter fürs Brandopfer und belud damit Isaak, seinen Sohn. Dann nahm er das Feuer und das Messer
in die Hand, und so gingen beide zusammen fort. Da redete Isaak Abraham, seinen Vater, an und sagte: Vater! Der antwortete: Da bin ich, mein Sohn. Da sagte er: Wir haben Feuer
und Holz, aber wo haben wir das Tier fürs Brandopfer? Abraham gab die Antwort: Es ist Gott selber, mein Sohn, der sich nach einem Tier für das Brandopfer umsehen will. Und so schritten beide zusammen weiter.
Als sie zur Stätte kamen, die Gott ihm bezeichnet hatte, errichtete Abraham dort den Altar, schichtete darauf die Scheiter, fesselte
Isaak, seinen Sohn, und legte ihn auf den Altar, zuoberst auf die Scheiter. Dann streckte er die Hand aus und ergriff das Messer,
um seinen Sohn zu schlachten. Da rief ihm der erscheinende JHWH vom Himmel her zu: Abraham! Abraham! Er sagte: Hier bin
ich. Er rief: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus, tu ihm nichts zuleide! Ja, jetzt habe ich erfahren, dass du Gott
fürchtest, und dass du nicht einmal deinen Sohn, deinen einzigen, verschont hättest meinetwegen. Abraham erhob die Augen, und
sein Blick fiel auf einen vereinzelten Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hatte. Da trat Abraham heran,
packte den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar an der Stelle seines Sohnes. Dieser Stätte hat Abraham dann den Namen
gegeben: Es ist JHWH, der sich umsehen will. So sagt man noch heute: auf JHWHs Berg wird danach umgesehen.
Der erscheinende JHWH rief Abraham nochmals vom Himmel her an und sagte: Damit tue ich einen Schwur bei mir selbst,
Erklärung JHWHs: Ja, dafür, dass du sogar das getan hast, dass du nicht einmal deinen Sohn, deinen einzigen, geschont hättest,
dafür will ich dich segnen noch und noch, die Zahl deiner Nachkommen will ich ins Unermessliche wachsen lassen, wie die der
Sterne am Himmel und wie die des Sandes, der am Ufer des Meeres liegt. Deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde in
ihren Besitz bringen. Alle Völker der Erde werden sich Segen durch deine Nachkommen erwerben, deswegen weil du auf meine Stimme gehört hast!
Abraham kehrte zu seinen Burschen zurück; sie brachen auf und machten sich gemeinsam auf den Weg nach Beerscheba. Abraham
wohnte in Beerscheba.“ (Gen 22)
Das ist eine äußerste Form der Darbringung, die Gott hier von einem Menschen abverlangt. Sie gehört in Wirklichkeit zur Kategorie
der Prüfungen, denn Gott verdunkelt selbst sein Bild bis zur Unkenntlichkeit, indem er dieses Äußerste fordert, das ihm sonst als
Gottesdienstform in der Seele verhasst ist. Diese Verdunkelung macht die auferlegte Darbringung zur Zerreißprobe, denn zu so etwas
kann ein Mensch höchstens aus grenzenlosem Vertrauen und größter Liebe Kraft finden: und gerade dieses Vertrauen und diese Liebe zu Gott drohen Abraham wegen der Natur des von ihm Abverlangten zu versinken! ...
Unter Aufbietung all seiner Kraft muss Abraham also gegen den Schein daran festhalten, dass Gott es wert ist, dass ihm alles
geschenkt wird. ... Im Grunde genommen würde Gott mehr verdienen als man ihm überhaupt je anbieten kann!
„Und sogar der Libanon reichte zum Scheiterhaufen nicht aus, und sein Wild reichte zum Brandopfer nicht hin!“ (Jes 40.16)
... In der Opferdarbringung liegt somit nicht nur die Intention der Selbsthingabe, sondern auch das Empfinden für das Ungenügen aller
Gabe im Angesicht des empfangenden Gottes. ... Gottes Forderung drängt Abraham also auf den steilen Weg zur höchsten möglichen
Anerkennung dieser göttlichen Würdigkeit. Woher erwächst Abraham die Kraft zu solchem Gehorsam? Die Probe, die Gott ihm
auferlegt, um „ihm auf den Grund zu kommen“, zwingt ihn, die im Opfern gelegenen Intentionen bis zu Ende zu begreifen: Jede
Gabe ist genau besehen zu klein für Gott. So sehr ist er es wert, dass ihm alles geschenkt wird. Und nur in der Bereitschaft, alles an
ihn zu verschenken, verwirklicht sich die Intention der Selbsthingabe, von der das Opfer getragen wird. ... Ja, er würde mehr
verdienen! Wenn wir ihm daher das Äußerste, das wir zu geben vermögen, darbrächten, wie Abraham seinen einzigen Sohn, so
würden wir in Wirklichkeit nicht nur bis an die Grenze des uns Möglichen gehen, sondern gleichzeitig würde in uns die Bereitschaft
wach werden, Gott auch noch mehr und noch Kostbareres zu geben, hätten wir bloß noch etwas über das schon Geschenkte hinaus zu geben!
In der Gabe des Äußersten, des einzigen Sohnes, hat Abraham gewissermaßen alle denkbaren Gaben mit eingeschlossen, denn was
könnte er jetzt noch verweigern, nachdem er bereit gewesen war, seinen Sohn hinzugeben? Diese letztmögliche Hingabe Abrahams
hat alle Schleusen geöffnet; jetzt verwandelt sich das einzelne Opfer des Sohnes in die fortdauernde Bereitschaft Abrahams, sich mit seinem ganzen Wesen an Gott hinzugeben, weil er ihm nichts verweigern könnte.
Vor dieser Bereitschaft verblasst die Notwendigkeit des einzeln dargebrachten Opfers. Dieses findet ja seine Erfüllung in der ganzen
Hingabe des Menschen an Gott:
„Geschlachtetes Opfer und Spende freuen dich nicht; Ohren hast du mir gegraben.
Brand- und Sündopfer hast du nicht mehr begehrt; so sagte ich: Da komme ich selber mit der Buchrolle, wo über mich geschrieben steht: Deinen Willen zu tun ist meine Freude, und was dich
richtig dünkt, das ist tief in mich hinab gedrungen.“ (Ps 40.7-9)
Das Neue Testament hat aus der Opferung Isaaks zwei Verständnisschlüssel für Jesu Gestalt und Werk gewonnen. Abraham
spiegelt jetzt Gott selber wieder, der seinen Sohn, seinen einzigen, den er liebt, Jesus, in den Tod gibt. In einer kaum
auszudenkenden, unauslotbaren Umkehrung wird alles, was Abraham an Selbsthingabe und an Hingabebereitschaft in diesen Aufstieg
auf den Berg Morija hineinlegte, unversehens durchsichtig auf die Hingabe Gottes selbst, auf seine Bereitschaft, dem Menschen
nichts zu verweigern, sondern ihm alles zu geben, obgleich der Mensch es doch nicht verdient, wie Gott es verdiente, dass ihm
Abraham alles schenkte. Durch die Züge Abrahams in der Opferung Isaaks leuchtet seit dem Neuen Bund das Antlitz des
unbegreiflich liebenden Gottes. Die Stellen des Neuen Testamentes, die Jesu Passion im Lichte der Prüfung Abrahams auf dem Berge
Morija als die Selbsthingabe des Vaters verstehen, sind nicht zahlreich, aber sie wiegen schwer. Ferner fällt nun Licht auf das Hingeben Jesu beim Abendmahl.
Er gibt Brot, das sein Leib, Wein, der sein Blut ist, also Speise und Trank, die sein Leben und somit seine Person sind.
Das Verteilen des in Brocken zerrissenen Brotes und das Kreisen des einen Bechers Wein, von dem alle
trinken, stellen die Selbsthingabe Jesu dar. Diese wird uns verständlich, wenn wir an Isaaks Opferung denken, in der ja der Sinn alles
liturgischen Darbringens und aller menschlichen Ãœberantwortung an Gott paradigmatisch, wie in einem Wesensbild aufstrahlt.
Die Selbsthingabe Jesu hüllt sich beim Abendmahl in das Gewand von Speise und Trank, die die Jünger nehmen, und an denen sie
sich stärken. Sie ermöglicht Leben, sie ist fruchtbar! Diese Fruchtbarkeit der Hingabe ergibt sich ebenfalls aus Isaaks Opferung, und
mit einer Beobachtung zu diesem Sachverhalt soll der Abschnitt über das menschliche Geben und über den Sinn des liturgischen Darbringens als Vorbereitung des Abendmahls Jesu einen Abschluss finden. ...
Das Verdienst Abrahams liegt in seinem Eingehen auf Gottes Tun: schenkt Gott ohne Berechnung und unentgeltlich, so schenkt
Abraham ohne Vorbehalt und Einschränkung. In Abrahams rückhaltloser Hingebung spiegelt sich im menschlichen Abbild etwas von Gottes voraussetzungsloser Gnade.
... Und so überließ sich Abraham dem Anspruch Gottes, ohne ihm hemmend in den Weg zu treten. Und so konnte sich das Leben
säende Wirken Gottes, seine Freude an ungehindertem Austeilen freien Raum schaffen. Abraham hatte ihm mit seinem
uneingeschränkten Ja gewissermaßen alle Freiheit eingeräumt; jetzt konnte er nach Herzenslust schaffen und Abraham alles geben,
wozu es seine Hochherzigkeit drängte. Die Fruchtbarkeit der selbstvergessenen Darbringung Abrahams entquillt diesem Brunnen. Er
hatte selbst durch seine Bereitschaft die Schranken niedergelegt, die Gott an seinem Schaffen gehindert hätten. Durch sein Eingehen auf Gott war die freie Bahn bereitet, auf der dieser ausschreiten kann.
Die Früchte kommen ganz Israel, der ganzen Nachkommenschaft zugute. ... So überfließen Abrahams Verdienst und Lohn weit über
ihn hinaus auf alle seine Kinder bis an den fernsten Horizont der Geschichte.
Auch dieses Überströmen der Hingabe des einen auf die anderen, ihre sich fortpflanzende, weite Kreise ziehende Fruchtbarkeit hat
die Form des Abendmahls mitgestaltet. Denn das Austeilen der Speise an die Jünger fällt mit der Lebenshingabe Jesu an alle wie ein Siegelbild mit dem Siegel zusammen.
Essend und trinkend empfangen sie Leben aus der Hingabe des Lebens Jesu. Dieser wohnen ja die Intentionen inne, die Abraham bei der Darbringung seines geliebten Sohnes trugen, und ihre Fruchtbarkeit lässt sich
ebenfalls aus der Fruchtbarkeit erahnen, die aus dem Opfer des Erzvaters für alle künftigen Geschlechter aufbrach.
(gekürzt aus: Adrian Schenker, Begegnung zwischen den beiden Testamenten - eine bibeltheologische Skizze, Freiburg/Schweiz, 1977, S. 84-89)
|