|
Wunder in der Kapelle der grauen Büßenden zu Avignon
Bekanntlich verwarf die Sekte der Albigenser auch den Glaubenssatz von der wirklichen
Gegenwart des Erlösers in der Eucharistie und entweihte durch tausend Verunehrungen das erhabene Sakrament. Nachdem Ludwig VIII., König von Frankreich, einen glänzenden Sieg
über diese Ketzer errungen hatte, fasste er den schönen Gedanken, dem Welterlöser für die ihm angetanen Beschimpfungen eine öffentliche Genugtuung zu verschaffen. Der 14.
September 1226 war der auserwählte Tag für die Ausführung dieses feierlichen Aktes. Der König zog zu seiner Hauptstadt und zu seiner vielgeliebten Familie. Die Stadt Avignon, wo er
anhielt, sah mit Bewunderung das so rührende Schauspiel. Bischof Peter von Corbie trug das heilige Sakrament in eine zu Ehren des
heiligen Kreuzes erbaute Kapelle, die sich außerhalb der Stadtmauern befand. Mit einem Bußsack angetan, mit einem Strick um die
Lenden und einem Licht in der Hand, wohnte der König der Prozession bei, der Kardinal-Legat begleitete ihn, sein ganzer Hof und eine unabsehbare Volksmenge folgte ihm.
Man ließ das Sakrament in dieser Kapelle ausgesetzt, so lange dieser fromme Fürst in Avignon weilte. Alle Tage brachte er demselben
neue Huldigungen dar. Ein so mächtiges Beispiel wurde nachgeahmt, und der Zulauf des Volkes führte zur Gründung einer frommen
Bruderschaft, die unter dem Namen der grauen Büßenden bekannt ist, weil die Mitglieder derselben bis auf unsere Tage einen grauen Bußsack tragen.
Das heilige Sakrament blieb in der Kreuzkapelle ausgesetzt, aber nach dem Brauch jener Zeit verschleiert. Am Tag, als es im
Triumph dorthin getragen wurde, war die Menge, die zur Anbetung herbeieilte, so groß, dass man das Sakrament auch die folgende
Nacht ausgesetzt lassen musste. Der Eifer kannte keine Grenzen mehr, und da die Kapelle mit Anbetern überfüllt war, hielt es der
Bischof für gut, dass das Sakrament Tag und Nacht ausgesetzt bliebe, eine Übung, die auch seine Nachfolger für gut hießen und der
Heilige Stuhl selbst approbierte. Die Kapelle erfreute sich des fast einzigen Privilegiums in der Welt, nämlich der ewigen Anbetung des
heiligen Sakramentes. Diese fromme Gewohnheit dauerte in der Kirche der grauen Büßer schon mehr als zwei Jahrhunderte an. Da
wollte Gott dieses Heiligtum, das ohnehin schon so begünstigt war, in der christlichen Welt noch berühmter machen, indem er
sozusagen den Übergang über den Jordan und das rote Meer erneuerte. Die Lage Avignon’s ist bekannt. An der Rhone liegend, die an
der Westseite ihre mit Zinnen versehenen Mauern umspült, wird das Gebiet dieser Stadt auch noch von den Wassern der Durance
und von einem Arm der Quelle von Vaucluse bewässert. Dieser Vorteil bringt aber auch oft Gefahren mit sich und mehr als einmal
hatte die Stadt unter furchtbaren Überschwemmungen zu leiden. In Folge beständiger Regengüsse traten 1433 die Flüsse über ihre
Ufer. Bald waren alle Stadtteile überschwemmt. Am 27. November begann das Wasser auch in die Kapelle der grauen Büßenden, die
an der Sargue lag, zu dringen. Die Überschwemmung nahm während der Nacht so beträchtlich zu, dass die Vorsteher der
Bruderschaft fürchteten, das Wasser könnte bis an die steinerne Nische steigen, in der das heilige Sakrament ausgesetzt war. Um
diesem Unfall vorzubeugen, beschlossen sie, falls sie die geringste Gefahr bemerkten, das Sakrament anderswohin zu bringen. Sie
fuhren in einem Kahn zur Kapelle, öffnen sie und sehen mit Verwunderung, wie das Wasser rechts und links an der Mauer 4 Fuß
hoch emporgestiegen ist, in der Mitte aber sich teilend, den Platz, der zum Altar führt, freigelassen hat. Das Wunder erschien noch
größer, als sie bemerkten, dass der dem Altar am nächsten gelegene Raum vollkommen trocken war, so dass, wie der authentische
Berichterstatter sich ausdrückt, die Wasser zu beiden Seiten eine Dachung (Dachschräge) bildeten. Nachdem die beiden Vorstände
dort einige Zeit lang im Gebet verweilten, beeilten sie sich, auch anderen Brüdern davon Meldung zu machen. Hören wir, wie das Protokoll, aus dem wir einen Auszug geben, sich ausdrückt:
“Groß war das Wunder in dieser Kapelle, als im Jahre 1433 die Wasser in sie eindrangen. Sehr stark begannen die Wassermassen
am Montag, den 29. November morgens zu steigen. Sie drangen in die Kapelle bis in den oberen Teil des Altars; unter dem Altar
befanden sich alle Papier- und Pergament-Bücher, die Kleider und die Handtücher, und alle Reliquienkästchen, die aber nicht im
mindesten benetzt wurden, obwohl an diesem Tag, der ein Dienstag war, die Wasser nicht zu steigen aufhörten. Am folgenden Tag,
am Mittwoch, begannen sich die Wasser zu verlaufen, so dass am Donnerstag zur Prim, als viele Leute zur Kirche kamen, alles Wasser fort war.
Armand und Johann de Poussilliac waren Vorstände und entdeckten dieses große und schöne Wunder. An den beiden Wänden,
rechts und links, standen die Wasser vier Fuß hoch, ohne dass der Ort, wo die Ordenskleider lagen, bewässert wurde, obschon das
Wasser gegen die Wand hin zwei Fuß höher war als die Bänke, und daher kam auch die erwähnte Dachung des Wassers. Der eine
Teil der Bänke gegen die Wand zu war voll Wasser, während der andere nicht im mindesten nass war; auch die über die Bänke
der Vorsteher herabhängenden Decken wurden nicht feucht. Wir übrigen, zwölf an der Zahl, sahen alle dieses Wunder und um
davon sich noch mehr zu überzeugen, suchten wir vier mindere Brüder (Franziskaner) auf, von denen drei Doktoren der Theologie
und einer Baccarlaureus (Hochschulgelehrter) waren, und auch sie fanden die Bänke an der Wand mit Wasser bedeckt und die
andere Hälfte ganz trocken. Mit Messern höhlten wir letztere Hälfte aus, fanden sie aber natürlich innen wie außen trocken.”
Die Wasser verliefen sich am 1. Dezember; in Mengen strömte das Volk in die Kapelle und jeder war Zeuge, dass die Bücher, die
Papiere, die Tücher und das Übrige, was unter dem Altare lag, nicht feucht war, sowie auch von dem, was die Brüder sahen.
Ein so augenscheinliches Wunder gab Veranlassung zu größerem Eifer der Gläubigen und Brüder. Zur Verewigung dieses Ereignisses
beschloss die Bruderschaft, an diesem Tage künftig jedes Jahr ein besonderes Fest in der Kapelle zu feiern, das noch heute am 30.
November, dem Fest des hl. Andreas mit großer Feierlichkeit begangen wird. Alle Mitglieder kommunizieren an diesem Tage, sie
ziehen in der Vorkapelle ihre Schuhe aus und rücken sodann auf den Knien zum heiligen Tisch. Am Ende der Vesper wird über das
1433 geschehene Wunder eine Predigt und vor dem Segen mit dem Allerheiligsten eine feierliche Abbitte gehalten. Die beständige
Aussetzung, womit dieser Ort begünstigt war, wurde 1793 durch die französische Revolution unterbrochen. Die Kapelle wurde
zerstört und erlitt das Los aller anderen Kirchen. Doch nach der Revolution wurde sie wieder von einer angesehenen Familie
aufgebaut; einige Zeit darauf ließ der Erzbischof von Avignon das Privileg der ewigen Anbetung erneuern, welche noch bis auf den heutigen Tag geübt wird.
(sprachlich leicht überarbeitet entnommen aus: Ott, Georg, Eucharisticum, Regensburg 1869, S. 256-257)
|